Deutungshoheit
Michael Sommer, Vorsitzender des DGB, bezeichne man als "Boss", mittlerweile eine gängige Beschreibung für Gewerkschaftsvorsitzende. Mit dem Begriff "Boss" kann man wunderbar implizieren, das bewußter Herr Sommer patriarchisch und nach eigenem Gutdünken seine Organisation führt (will man noch etwas mehr Amateurcharakter hervorrufen, kann man für den Begriff "Organisation" ersatzweise auch "Verein" gebrauchen).
Auf Seiten seiner Adressaten, der Allianz AG, nenne man am besten keine Namen, sondern benutze den vagen Begriff "die Manager". Das hat sowas Modernes, Funktionelles, beinahe schon Wissenschaftliches. Das diese Manager in ihrer Funktion und Arbeitsweise viel mehr an ursprüngliche Bosse erinnern, haben wir also schon galant ausgemerzt.
Um der Kritik von Hr. Sommer noch weiter die Substanz zu entziehen, benötigt man nach Möglichkeit etwas Emotionalität und eine anachronistische Begrifflichkeit. Die Emotionalität bedienen wir mit "Empörung", und im Zusammenhang mit Gewerkschaften passt das Wort "Klassenkampf" zum Glück fast immer hervorragend. "Klassenkampf", das hat was von Arbeiterkampfbund, großen Fabriken, Bergwerken, dreckiger Arbeit, roten Fahnen, Ernst Thälmann und Weimarer Republik, heute sind wir doch so viel weiter.
Zugegeben, sich auf Begriffe wie "Vaterland" zu stützen, ist nun auch nicht sehr geschickt von Hr. Sommer, aber Nationalstolz wird derzeit ebenso gerne von der Politik rauf und runter zitiert.
Was vom Text noch übrig bleibt? Leider nur die Fakten, aber die sind ja eigentlich langweilig: die Allianz AG macht Gewinne im Milliardenbereich und streicht auf der anderen Seite 5000 Arbeitsplätze in der Absicht, nächstes Jahr noch mehr Gewinne zu machen. Hinzu kommt noch die geplante Halbierung der Körperschaftssteuer für Unternehmen, und das gerade jetzt, wo Deutschland als einziger EU-Staat schon wieder nicht in der Lage ist, die Neuverschuldungshöchstgrenze nach EU-Abkommen einzuhalten, zum 4. oder 5.(?) Jahr in Folge.
Ganz so unrecht hat Hr. Sommer gar nicht, wenn er die Frage nach nationaler Verantwortung in den Raum stellt: im letzten Quartalsbericht der Allianz ist nachzulesen, das man eine Rechtsformänderung anstrebt und bald als Societas Europeas firmieren wird. Damit ist es unter anderem wesentlich leichter, den Hauptsitz in ein beliebiges Mitgliedsland der EU zu verlegen.
Und mir stellt sich die Frage, was jetzt bedenklicher ist:
5000 Arbeitsplätze weniger, zwar nicht unbedingt Entlassungen, aber zumindest in naher Zukunft 5000 Möglichkeiten weniger für Arbeitslose und/oder Jugendliche, einen Arbeitsplatz zu finden, und 5000 Einzahler in die gesetzlichen Versicherungssysteme weniger...
oder die Auseinandersetzung mit vielleicht doch nicht so anachronistischen Begriffen.
Ich tendiere dazu, ersteres bedenklicher einzuschätzen, aber ich bin ja auch ein "hoffnungsloser Sozialromantiker"...